Text und Bildmaterial Archiv Manfred E. Sprenger
Und hier nochmals der gesamte Bericht.
Der Pionier-Motor hatte offensichtlich das Potential zu mehr, als nur in einem biederen Alltagsmotorrad durch die Welt zu tuckern. Es brauchte nur die Menschen, um dieses Potential auszuschöpfen und mit den richtigen Maßnahmen zur Leistungssteigerung die Mehr-PS herauszukitzeln. Da man bei Victoria schon ab 1939, also schon ein halbes Jahr nach Produktionsbeginn, mit Rüstungsaufträgen in Form der Pionier KR 35 WH ausgelastet war und im gleichen Jahr der 2.Weltkrieg seinen unheilnehmenden Anfang fand, war an eine echte Rennsportversion für die Straße werksseitig nicht zu denken.
Nach dem Krieg sah die Welt komplett anders aus. Die deutschen Städte waren zerstört und die Industrieanlagen, so sie den Bombenangriffen überstanden hatten, wurden von den Siegermächten demontiert. Die Menschen hatten andere Sorgen als Motorradrennen, etwas zu Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf waren die überlebensnotwendigen Dinge die organisiert werden mussten. Und doch gab es Motorsportverrückte die sich ihre Leidenschaft über den Krieg hinaus bewahrt haben und die darauf brannten endlich wieder loszulegen. Es dauerte auch nicht lange bis die ersten Motorradrennen veranstaltet wurden. Es waren keine Geländesportveranstaltungen mit Serienmaschinen zur Wehrertüchtigung wie vor dem Krieg, davon hatten die Menschen die Nase voll, sondern Straßenrennen die oftmals in den eben erst von Bombenschutt freigeräumten Innenstädten organisiert wurden. Diese Rennen waren echte Publikumsmagnete, die Zuschauerzahlen schwankten je nach Veranstaltungsort zwischen 25.000 und 100.000. Die Menschen wollten nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren wieder so etwas wie Freizeit erleben. Es gab wohl hier und dort wieder etwas Benzin zu kaufen, was es aber nicht gab, waren neue Rennmotorräder. Es gab nicht eimal eine funktionierende Serienproduktion von Alltagsmaschinen. Wer also eine echte Rennmaschine in den Wirren der Zeit verstecken konnte und diese den Krieg überstanden hatte, konnte diesen Schatz jetzt wieder ans Tageslicht holen. Bis Anfang der 50er Jahre die deutschen Motorradfabriken langsam wieder in die Gänge kamen, basierten alle Rennmaschinen auf Vorkriegsmaterial, es war also rennsporttechnischer Stillstand über einen Zeitraum von über 10 Jahren.
Einer dieser Motorsportinfizierten brannte darauf wieder Rennen zu fahren: Harald Oelerich. Geboren am 21. 9.1921, aufgewachsen in der Kleinstadt Markkleeberg südlich von Leipzig, sammelte er dort schon mit 17 Jahren erste motorsportliche Erfahrungen bei Geländewettbewerben die vom NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrer Korps) organisiert wurden. Mehrere Siegerplätze fuhr er auf seiner Aero KR 25 S heraus. Daraufhin bekam er im September 1938 vom Victoria-Werk eine Bronzene Plakette für seine Erfolge überreicht.
Die Begeisterung für Motoren war ihm vom Vater in die Wiege gelegt worden. Oberingenieur Heinrich Oelerich legte 1910 als 37. deutscher Flugzeugührer seine Pilotenprüfung ab. Er arbeitete als Konstrukteur und Chefpilot bei der Deutschen Flugzeug GmbH in Leipzig. Im Juli 1914 stellt er mit einer DFW-CV mit 8150 Metern einen neuen Höhenflugrekord auf.
Der Sohn Harald studierte Maschinenbau im Schnellstudium und war schon 1939 als Werkstudent während der Semesterferien zwei Monate bei Victoria. Dann waren zwei Jahre Wehrdienst angesagt, er wurde zur MAN geholt, anschließend zur Torpedo-Versuchsanstalt nach Eckernförde, wo er bis Kriegsende blieb.
Nach dem Krieg zog die Familie nach Freising bei München; Harald war mittlerweile 26 Jahre alt und in seinen besten Jugendjahren hatte er nur Krieg erlebt. Irgendwie hatte er seine Aero KR 25 S über den Krieg gerettet und er schaffte es auch 1947 eine Victoria Pionier zu bekommen. Vermutlich war es eine Vorkriegsmaschine und keine der ca. 500 Pioniere die nach dem Krieg bei Victoria zusammengeschraubt wurden; in einem Brief erwähnt Oelerich als Baujahr 1939. Sein Plan muss von Anfang an gewesen sein mit dieserm Motorrad bei Rennveranstaltungen mitzufahren.
Auf Anfrage im Werk nach einem Rennbügel für den Hinterradkotflügel wird ihm zwar gesagt das dieser nicht lieferbar sei, aber es wurde einer für ihn angefertigt und für 12 Reichsmark plus Porto und Verpackung zugeschickt. Die Bestelllisten des Jahres 1947 von Pionier-Ersatzteilen, die er direkt ans Werk nach Nürnberg schickte, werden immer länger: Ventilfedern, Dichtungen, Fußrasten, Kolbenbolzen und -büchsen, Steckachse, Bowdenzüge, Spezialabzieher, Kupplungsfeder usw. usw. ….und zu guter letzt: ein wenig Victoria-graue Farbe. Der Anfrage nach dem Lack konnte leider nicht erfüllt werden, weil, so wörtlich „..uns die Beschaffung desselben augenblicklich größte Schwierigkeiten bereitet”. Wegen Beschaffung von Ketten und Getriebeteilen verweist das Werk direkt an die Hersteller Ruberg & Renner in Hagen, sowie GETRAG, Getriebe- und Zahnradfabrik, Ludwigsburg.
Am 7. September 1947 startete Harald Oelerich beim „Rundstreckenrennen in Nürnberg“ und belegte den 3. Platz in der Ausweisfahrerklasse bis 350 ccm. Im darauffolgenden Winter beschäftigte er sich intensiv mit dem Motor, wo auch immer organisierte er speziell angefertigte Rennkolben, bestellte Ersatzteile bei der Victoria Reparaturabteilung und erkundigte sich dort im Januar 1948 ob eine Feinwuchtung der Kurbelwelle möglich sei, die auf das Gewicht des leichteren Rennkolbens abgestimmt sein sollte.
Bei Victoria, namentlich in Person von Reparaturmeister Leißner, konnte man nicht anders, als diese Anfrage abzulehnen, es fehlten im Werk die technischen Möglichkeiten und es war eine ungünstige Zeit.
Das Victoria Werk in der Ludwig-Feuerbach-Straße war zu 80 Prozent zerstört und die verbliebenen Victorianer hatten andere Sorgen als Motorradrennen, es ging darum eine funktionierende Produktion, von was auch immer, auf die Beine zu stellen. Man kann davon ausgehen, das ein Großteil der Werkzeuge und Fertigungsanlagen unbrauchbar war und unter den zusammengebombten Werkshallen begraben lagen.
Oelerich bekam tatsächlich vom Werk eine neue Kurbelwelle geschickt die leider eine Unwucht von 1,5 mm hatte und somit unbrauchbar war.
Am 15. Mai 1948 starte Harald Oelerich erneut beim „Rundstreckenrenen in Nürnberg“. Das Pech holte ihn ein, als er an erster Stelle liegend mit einer gerissenen Primarkette ausgefiel. Eine neue Ersatzkette vom Hersteller Ruberg & Renner, die er dabei hatte, war an den Hülsen so vom Rost angenagt, das er sie nicht verwenden wollte. Eine bessere Qualität konnte weder vom Hersteller noch von Victoria geliefert werden, als er nach einer neuen Kette anfragte. Es wurde ihm aber empfohlen „…nicht mit großer Geschwindigkeit zu fahren, da sonst durch überraschendes Reißen das Motorgehäuse und darüber hinaus der Fahrer zu Schaden kommen könnte“ – ein goldrichtiger Tipp für einen Rennfahrer, den Oelerich sicher mit Begeisterung aufgenommen hat.
Bei den restlichen Rennen die Oelerich im Jahr 1948 bestritt, lief die Pionier mit einer Spitze von 135 km/h sehr zuverlässig, wie die Platzierungen zeigen:
8.8. Ulmer Stadtringrennen 2. Platz
12.9. Rundstreckenrennen Nürnberg 3. Platz
26.9. Hofer Dreieckrennen 1. Platz
10.10. Münchner Rundstreckenrennen 2. Platz
17.10. Quer durch Rosenheim 2. Platz
Nach der Rennsaison bekam er die Möglichkeit angeboten im Werk einen neuen Reservemotor zum Preis von 650 DM zu kaufen, mit dem Hinweis, das es sich um einen „normalen und nicht um einen frisierten Motor handelt“. Dafür fehlte allerdings das Geld, weshalb er erneut an Victoria schreibt und um Unterstützung für seine Renneinsätze bittet. Seine Lage schätzt er realistisch ein und schildert dies in einem Brief an Victoria: „Da ich nächstes Jahr als Lizenzfahrer starten muss, bleiben mir drei Möglichkeiten:
- meine zwei Victorias (250+350 ccm) zu verkaufen und eine andere, richtige Rennmaschine dafür zu erwerben. 2. Auf Grund meiner finanziellen Lage die Maschine nicht zu verbessern und damit dauernd als Schlußlicht hinterherzufahren (was bestimmt dann keinen guten Eindruck mehr hinterlässt) und 3. dass mir die Victoria Werke ein wenig unter die Arme greifen (evt. auch durch Anfertigung einiger Teile, es handelt sich dabei um wirklich nicht viel). Die 3. Möglichkeit wäre mir das Angenehmste, denn ich könnte dann weiterhin Victoria fahren. Das ich nicht bei evtl. Lieferung von Teilen etc. diesselben für dunkle Geschäfte missbrauche, können sie mir glauben.“
Nach diesem Brief haben die Victorianer die Notbremse gezogen, es war mittlerweile klar, dass hier ein sehr ambitionierter und ehrgeiziger junger Mann seine Leidenschaft an die Rennfahrerei verloren hatte, dem konnten das Victoria Werk nicht mehr gerecht werden. In einem ausführlichen Brief an Oelrich wird dies geschildert:
„Wenn uns auch ihre Starts keinen ideelen Nutzen bringen, ja vielleicht eher ungenehm sind, weil unter den Verhältnissen, unter welchen sie fahren müssen, garnicht die Erfolge zu erwarten sind, die eine Entschädigung für ihre Mühe die sie sich machen, darstellen können, so sind wir andererseits aber garnicht in der Lage, sie technisch so zu unterstützen, wie es erforderlich wäre, weil wir tatsächlich alles an Vorrichtungen und Werkzeugen aus der Motorradfertigung verloren haben und keinerlei Ersatzteile aus der früheren Rennabteilung besitzen. Wir haben jetzt auch garnicht die Zeit, um uns mit solchen Problemen zu befassen.
Aus diesem Grund sind wir bei Überpüfung der von ihnen aufgestellten drei Möglichkeiten zu der Überzeugung gekommen, dass es für sie nichts Besseres gibt, als – wenn sie schon rennen wollen – sich auch eine wirkliche Rennmaschine zuzulegen. Das was sie bisher mit anerkennenswertem Fleiß gemacht haben, geht nur bis zu einer gewissen Grenze und dann muss die Fabrik mit eingreifen, wozu wir – wie wir ihnen offen sagen – bis auf weiteres nicht in der Lage sind. Wir sind auf diesen Standpunkt gekommen, nicht weil er der augenblicklich bequemere ist, sondern haben eingehend mit unserern Technikern im Betrieb gesprochen und auch Herrn Rieß zu Rate gezogen, der sie ja persönlich gut kennt. Es ist dies zwar nicht das was sie erwartet haben, aber bei reiflicher Überlegung werden sie selbst zu der Einsicht kommen, dass es das Beste ist, was sie z.Zt. tun können. Sollten sie auf dem Behelfsweg weiter machen wollen, so empfehlen wir ihnen sich einmal an die Firma Horex-Columbus-Werk, Bad Homburg v. d. Höhe, zu wenden, die im wesentlichen den gleichen Motor hergestellt und noch Bestandteile zum frisieren von Motoren oder vielleicht auch einen Rennmotor haben könnten.“
Ein interessanten Aspekt ist dabei der Hinweis, das bei Horex der gleiche Motor hergestellt wurde. Das lässt darauf schließen, das die Motoren nicht wie immer angenommen, ausschließlich von den Columbus Motorenwerken bezogen wurden, sondern auch in Nürnberg bei Victoria produziert wurden.
Genau zwei Wochen später, am 16.11.1949, solange hat er wohl überlegt was zu tun ist, schreibt Oelerich an Horex mit der Anfrage nach einem Alu-Zylinderkopf und verstärkten Pleuel. Der Chef Fritz Kleemann antwortet ihm persönlich und vertröstet ihn auf das nächste Frühjahr, weil sich im Moment alle Kapazitäten auf die Serienfertigung konzentrieren und erst dann evt. Sonderwünsche berücksichtigt werden können.
Beim Schwiegersohn von Kleemann, Herrn Fischer, der in der Geschäftsleitung tätig ist, stößt er auf offene Ohren und in einem Brief vom 21.6.1949 schreibt dieser: „Wir sind selbstverständlich bereit, sie in der Zukunft zu unterstützen, sobald es die Verhältnisse zulassen. Bei Produktionsanlauf unserer Neukonstruktion (Anm. der Redaktion: Modell Regina) werden wir ihnen daher die Möglichkeit geben, auf einem Fahrzeug zu starten, das ihnen die notwendigen Erfolgs-Chancen sichert. Es wäre daher gut, wenn sie es in absehbarer Zeit ermöglichen könnten, uns zu besuchen, damit wir an Ort und Stelle die einzelnen Punkte besprechen.“
Die komplette Saison fuhr Oelerich noch seine Pionier als Lizenzfahrer mit einigen guten Ergebnissen. Leider existiert nach dem Juli 1949 kein Fotomaterial auf dem zu erkennen wäre, ob er mit Horex oder noch immer mit einer Victoria startete. Anzunehmen ist, das er seine Pionier kurzerhand in eine Horex umtaufte, weil er seine Ersatzteile ab sofort aus Bad Homburg bezog. Ein Horex-Tank war zumindest auf einer seiner Bestellungen aufgeführt.
Die Platzierungen in den Rennen im Jahr 1949 waren wie folgt:
22.5. Eifelpokalrennen Nürburgring Ausfall
5.6. Riemer Rundstreckenrennen 2. Platz
12.6. Rund um Schotten Ausfall
26.6. Tübinger Stadtringrennen 12. Platz
31.7. Bergpreis Freiburg Schauinsland 5. Platz
15.8. Rund um Ingolstadt 7. Platz
21.8. Hofer Dreieckrennen 7. Platz
28.8. Stadtrennen Bad Reichenhall 2. Platz
18.9. Solitude Rennen Stuttgart Ausfall
25.9. Rundstreckenrennen Nürnberg Ausfall
Was danach geschah ist in kurzen Worten erklärt. Harald Oelerich war kein Mann von halben Sachen, Ende des Jahres 1949 kaufte er sich eine AJS 7R Boyracer über den Importeur Lohmann & Louis (die Vorgängerfirma vom heutigen Motorradzubehörhändler Louis) in Hamburg. Dieses Rennmotorrad war international in der 350er Klasse das Maß der Dinge und kostet ein kleines Vermögen.
Nach diesem AJS-Diskurs, der nur ein paar Monate andauerte, kontaktete er wieder ausführlich mit dem Horex-Leuten in Bad Homburg, fuhr das neue Modell Regina als Teilnehmer der Horex-Mannschaft bei der ADAC-Deutschlandfahrt mit einer Auszeichnung in Gold. Harald Oelerich wurde festangestellter Mitarbeiter, Rennfahrer und Versuchsingenieur der Horex Werke – es war sein Traumberuf, in den er all seine Energie investierte.
Seine Kontake zu Victoria lies er nie ganz einschlafen und so wechselte er 1954 nach Nürnberg zu den Victoria Werken um, wie schon bei der Horex Regina, bei der Entwicklung der V35 Bergmeister maßgeblich mitzuwirken.
Aber das ist eine andere Geschichte über die noch ausführlich berichtet werden soll.
Text und Bildmaterial Archiv Manfred E. Sprenger